Gerhard Schröder räumt bei der ZEIT MATINEE Fehler während eigener Amtszeit ein und verteidigt Putin
So sei der Koalitionsvertrag 2002 „viel zu technokratisch“ gewesen. Man hätte sich „mehr Zeit geben müssen, um präziser zu sein“. Die Agenda 2010, die 2003 entstand, hätte eigentlich die Regierungserklärung der zweiten Legislaturperiode sein müssen, so Schröder. Außerdem habe man viel zu lange diskutiert, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei oder nicht, anstatt die Integration von Migrantenfamilien mit konkreten Beschlüssen voranzutreiben. Man habe zu institutionell, zu wenig konkret gehandelt. Insbesondere bei der Vermittlung der deutschen Sprache habe man „zu wenig Zwang ausgeübt“. Die Überzeugung, man müsse eine gesteuerte Einwanderung haben, habe sich zu spät durchgesetzt.
Bei der Veranstaltung der Wochenzeitung DIE ZEIT im ausverkauften Hamburger Thalia Theater plädierte Gerhard Schröder auch für einen „veränderten Begriff der Nachbesserung in der Politik“: Politiker müssten das Recht auf Kurskorrekturen haben, „ohne dass man denunziert wird“. Die Wirklichkeit wandle sich viel zu schnell und sei zu komplex für statische Entscheidungen. Die Politik müsse heute soziale und wirtschaftliche Veränderungsprozesse vorhersehen und ihre Entscheidungen gegebenenfalls korrigieren dürfen.
Auf die Vorwürfe, seine Regierung habe zur Verbreiterung einer Unterschicht beigetragen, sagte Schröder, dies sei „Unfug“. Eine Unterschicht habe es auch in der Vergangenheit gegeben, sie sei aber z. B. durch die Globalisierung verschärft worden. Ein Problem liege auch in den modernen Gesellschaften selbst: „Die Menschen wollen an bestehenden Strukturen festhalten“. Neben dem Angebot sei insbesondere der Wille zur Veränderung wichtig. Wohlhabenden Gesellschaften fehle es häufig an Motivation. Ein großes Problem sieht Schröder in der Abwanderung junger hochqualifizierter Arbeitskräfte. Schuld daran seien aber die Unternehmen selbst, die Berufsanfängern schlechte Einstellungschancen bieten: „Die jungen Leute werden heute von Praktikum zu Praktikum geschickt“.
Mit Kritik an der aktuellen Regierung hielt Schröder sich zurück. Die Libanon-Politik halte er für richtig, allerdings kritisierte er die Gesundheitsreform: Kopfpauschale und Bürgerversicherung seien zwei „nicht zu vereinbarende Prinzipien, die man mit der Reform versuche in der Schwebe zu halten, damit alle zufrieden sind.“ Veränderungsbedarf sieht er auch in der Regulierung: Es sei „schon ein bisschen kleinkariert, wie wir uns bisweilen darstellen“.
Schröder verteidigte auch seine persönliche Beziehung zu Putin, den er früher einen „lupenreinen Demokraten“ genannt hatte. Das alte Russland, so Schröder, „hat nie eine demokratische Entwicklung erlebt“. Putin habe eine große historische Leistung in der Reorganisation des Staates erbracht. Er halte den „deutschen Zeigefinger“ für unangebracht. Auch auf die Frage nach der Situation der Pressefreiheit in Russland, verteidigte Schröder den russischen Präsidenten. In der gedruckten Presse gebe es durchaus kritische Berichte, im Fernsehen gebe er allerdings Einseitigkeiten zu.